Über das Alter
An meinem 59. Geburtstag saß ich
mit Kollegen, den Länderchefs aus Lateinamerika, der Organisation für die ich
tätig war, zusammen. Beim Zuprosten kam dann die Frage nach dem Alter jedes
Einzelnen auf. Das Ergebnis, der Zweitälteste war 20 Jahre jünger als ich. Dies
war für mich die erste Begegnung mit dem Alter. Im Jahr darauf nahm ich dann
auch Abschied von dem Berufsleben, das mich über 30 Jahre beschäftigt und auch
manchesmal fasziniert hatte. Ich erkannte, meine Zeit in diesem Bereich war
abgelaufen.
Dabei fühlte ich mich noch
keineswegs alt, gesundheitliche Probleme hatte ich nicht, im Gegenteil, ich
stand in der Blüte meiner sportlichen Laufbahn, ein Jahr zuvor hatte ich mir
einen Traum erfüllt, den ersten Marathonlauf meines Lebens erfolgreich
durchgestanden, und dies auch noch im von mir so geliebten New York. Als Läufer
gab es für mich ein Lebenlang zwei besondere Höhepunkte, die nicht nur vom
sportlichen Aspekt her ein „high light“ waren: Der Marathon von New York und
der Sylvesterlauf von São Paulo. Durch die Straßen, die Avenues und über die
Brücken New Yorks zu Fuß zu laufen, die an Werktagen von Taxis, Autoschlangen
und einer Unzahl von Omnibussen beherrscht werden. Dazu noch die immer dahin
hastenden New Yorker Fußgänger. All dies war am Sonntag des New York Marathons
anders. Früh musste man die Busse besteigen, welche die Teilnehmer nach Staten
Island brachten. Dort „kampierte“ man dann mehrere Stunden in der Kälte eines
frischen Novembertags, bis man schließlich wie eine Meute hungriger Hunde
losgelassen wurde. Die Masse Mensch rannte dann die Verrazano-Narrows-Bridge
hinauf und hinunter und entlud sich dabei der wärmenden Trainingskleidung, die
trotz des eisigen Windes bald überflüssig wurde. Brooklin wurde durchquert, man
begegnete sonntäglichen Kirchgängern, wurde von Freizeitmusikern angetrieben
und passierte die vielen in traditionellem Schwarz gekleideten orthodoxen
Juden, die völlig unbeteiligt mit sich selbst beschäftigt waren. Als man dann
über die Queensboro-Bridge endlich Manhattan erreichte, war die Hälfte der
Strecke bereits zurückgelegt. Man lief zwischen den Häuserschluchten die First
Avenue entlang und hatte den Eindruck, dass sie nie enden würde. Dann wurden um
Kilometer 30 auch zum ersten Mal die Beine schwer, mit Wasser, Karbohydraten
und einigen hundert Meter gehen hatte man aufgetankt und den Rythmus wieder
gefunden. Über den Stadtteil Bronx, mit seinem weniger guten Ruf, ging dann der
Weg zurück, die vornehme Fifth Avenue entlang und als man die ersten Sträucher
und Bäume des Central Parks erreichte, wähnte man sich bereits am Ziel. Doch es
ging nochmals gut und gerne 5 Kilometer durch den Park hinaus zur 59. Straße
und schließlich wieder in den Park um das Ziel zu erreichen. Danach schwankte
man zwischen grenzenloser Müdigkeit und dem erhabenen Glücksgefühl als ob man
die Türe zu einem anderen, einem neuen Leben aufgestoßen hätte.
Tage später begann Amerikas
Unglück, George Bush, war zum 43. Präsidenten gewählt worden, aber als
erfolgreicher Marathonläufer bewegte man sich auf anderen Ebenen. Ähnlich
erging es mir auch als ich es wagte an meinem ersten Sylvesterlauf
teilzunehmen. In dem so unglaublich jungen Alter von 54 Jahren. Davon träumte
ich seit Erich Kruzickys Sieg im Jahr 1951. Nur durch seinen Erfolg wurde
damals in Deutschland bekannt, dass es diesen Lauf überhaupt gab. In den
folgenden Jahren nahm einer der erfolgreichsten Langstreckenläufer der
damaligen Zeit, Emil Zatopek, daran teil und gewann.
Nach diesen persönlichen Erfolgen
wurde nicht im geringsten an das Altwerden gedacht, eben hatte ja ein neues
Leben begonnen, das auch sonst eine Menge neuer Erfolge brachte, im
zwischenmenschlichen Bereich. Es folgten weitere Marathon und sonstige
Langläufe. „unheilbar gesund“ wäre ich, sagte ich zu meinem Arzt. Der lächelte
nur, als ob er vorausgesehen hätte, dass dies nur noch einmal ein Aufbäumen vor
dem unweigerlich entstehenden Alterungsprozess gewesen wäre. Doch es blieb
nicht bei den sportlichen Leistungen, auch neue berufliche Herausforderungen
warteten. Nach 35 Jahren zwar erfolgreicher, aber eher einer Pflichttätigkeit war
ich endlich angekommen, wurde gebeten ein Kulturinstitut zu leiten und konnte
damit Neigung, Interesse, Freude, Hobby und Erfahrung richtig einbringen und
anwenden. Es begann ein neuer Lernprozess, denn Einwanderungsgeschichte war
nicht mein Thema gewesen. Dabei entpuppte es sich als so spannend wie ein
Kriminalroman. Diese neue Herausforderung war gut für das Gedächtnis, für die
Aufnahmefähigkeit, aber brachte auch den Umgang mit älteren und alten Menchen,
denn wer sich für seine Familiengeschichte interessiert, ist, mit wenig
Ausnahmen über 65. Richtig interessant wurde es aber, wenn bei den Interviews
zur „ oral history“ Personen von 80 und 90 Jahren ihr Leben und ihre
Familiengeschichte erzählten. Das war oft sehr faszinierend, aber zugleich
konnte man die Schwierigkeit der Interviewpartner erkennen, sich zu erinnern.
Wobei die weiter zurück liegende Vergangenheit weit besser wiedergegeben
werden konnte, als die jüngere. Oder sie hatten in ihrem Leben irgendeinen
Höhepunkt erlebt, der sie markierte. Dieser bleibt haften, in einem Fall war es
das Verbot des Stiefvaters den Jungen auf ein Gymnasium zu schicken, er saß auf
einem Stein am Straßenrand und weinte, wobei sowohl Zeit, Ort und die Umgebung
genau beschrieben werden konnte. In einem anderen Fall war es der Einsatz mit
23 Jahren als Kriegsreporter in Italien. Obwohl das Leben danach eine sehr
erfolgreiche Karriere im Wirtschaftsbereich brachte, im Alter verschwand dieser
Erfolg, was blieb war Rom in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Neben dem
lückenhaften Erinnerungsvermögen, das zum Beispiel Douwe Draaisma in seinem
Buch „Die Heimwehfabrik“ sehr
detailliert beschreibt, begleitet man auch den physischen Verfall des Menschen.
Wobei ich bei dem Thema wäre, das mich derzeit am meisten beschäftigt.
Nicht umsonst begann ich diese
Abhandlung mit meinem späten sportlichen Höhepunkt, der heute nicht mehr so
ungewöhnlich ist, seit die Laufbewegung Hundertausende wenn nicht gar Millionen
auf die Beine brachte. Früher war die sportliche Aktivität spätestens mit 30
Jahren beendet, danach wurde man bereits als „alter Mann“ bezeichnet. In vielen
Sportarten ist dies heute noch so, wenngleich beim Fußball mehr und mehr 30 bis 40 Jährige noch auf
hohem Niveau spielen, dies gilt auch für die Leichathletik, wo der Athlet
vielmehr momentane Spitzenleistungen hervorbringen muss als der Fußballspieler.
Oder betrachten wir die Tennisspieler, der einmalige Roger Federer wird mit 31
Jahren bereits als „alter Mann“ bezeichnet, obwohl er weiterhin auf höchstem
Niveau spielt, während ein Großteil seiner Konkurrenten jenseits von 25 Jahren
bereits mit schweren Verletzungen und damit verbundenem Leistungsschwund zu
kämpfen hat. Anders verhält es sich mit dem Ausdauersport und besonders mit dem
Langstreckenlaufen. Da es nicht nur als Spitzensport populär ist, obwohl dort
noch 40jährige große Rennen gewinnen können, hat man rechtzeitig dafür gesorgt,
dass auch die Sieger in den verschiedenen Altersgruppen gewürdigt werden und
dies machte sich bezahlt. Um wieder auf den New Yorker Marathon zurückzukommen,
der Sieger in der Gruppe plus 80 wird vom Fernsehen am nächsten Tag genauso
umworben, wie der Gesamtsieger. Dies zeigt am Besten, dass physische Leistung
bis zu einem gewissen Alter auf hohem Niveau möglich ist. Allerdings gibt es
bestimmte Voraussetzungen, wie beispielsweise die physische Konstitution. Wenn
eine Person von mehr als einhundert Kilogramm Körpergewicht auf längere Zeit
für die Marathonstrecke trainieren will, dann kommt es unweigerlich zu
körperlichen Schäden in den Gelenken des Bewegungsablaufs. Überhaupt ist dies
das Hauptübel der fanatischen Langstreckenläufer: Wirbelsäule, Hüfte, Knie und
Knöchelgelenke werden bei den Meisten zu stark beansprucht. Eine reine
Sichtstudie ergab, dass ein Großteil der Langstreckler für diesen Sport nicht
geeignet ist, der Körper ist zu schwer und die Beine zu kurz. Man beobachte nur
die Spitzenathleten dieses Sports, selten haben sie mehr als sechzig Kilo,
lange spindeldürre Beine, dafür einen überdimensionalen Brustkorb.
Doch der Durchschnittsläufer will
davon nichts wissen, er erwartet auch keinen Sieg, denn eine Medaille bekommt
jeder der erfolgreich ankommt, ihm geht es mehr um das Glücksgefühl die Schwere
seines Körpers überlistet zu haben, an die Grenze der Leistungsfähigkeit
gegangen zu sein und dadurch die berühmten glücksbringenden Endorfine ausgelöst
zu haben. Jeder Lauf ein Sieg gegen sich selbst. So erlebte ich dies etwa zehn jahrelang.
Bis ja, bis die Rückenschmerzen begannen, zunächst als Muskelschmerzen abgetan,
der Ischiasnerv meldete sich, besonders nachts beim Ruhen. Doch nach wenigen
Kilometern Warmlaufen war der Schmerz verflogen. Man hätte eigentlich darauf
hören sollen, Schmerzen seien ein Warnsignal, sagten die Ärzte. Doch man konnte
sie übertölpeln, mit Schmerzmitteln, mit Massage, Physiotherapie oder auch
Akupunktur. Dies alles wurde nun Teil der Vorbereitung eines Läufers. Zu spät
wurde einem erklärt, dass man auch an die Stärkung der Rückenmuskulatur denken
sollte, die ja das Knochengerüst elastisch erhält. Nun ich habe meine eigenen
Erfahrungen gemacht und stehe vor einer Bandscheibenoperation.
Dabei kann man argumentieren,
dass dies kein typisches Alterssymptom wäre, auch bei jüngeren Läufern kann
dieses Problem auftauchen. Doch es ist nicht nur dies, obwohl derzeit die
artikulierteste Äußerung des Alterns. Dass die Haare grau werden und zwar in
einem Umfang, dass auch die Tuschierungsmittel nicht mehr helfen ist nur ein
optischer Vorgang, ärgerlicher schon, dass sie immer mehr dort wachsen wo sie
nur stören, in den Ohrmuscheln und in der Nase. Verstärkte Augenbrauen können
sogar noch männlicher wirken. Aber da sind wir bereits bei den wichtigsten
Organen, den Augen: nun die Sehschärfe lässt nach, besonders die Nahsicht,
wobei die Weitsicht sich wieder erholt wie es in der Jugend war, ein
eigenwilliger Vorgang. Mit dem Gehör ist es so eine Sache, nicht dass man
bereits einen Hörapparat einbauen müsste, aber Cocktailparties machen keinen
Spass mehr, da der Lärmpegel der Umstehenden die Konzentration beim
Zwiegespräch stark beeinträchtigt. Was man jahrzehntelang so gerne wahrnahm,
meidet man nun. Nicht zu erwähnen die Nierensteine, die sich möglichst immer
auf Reisen melden, also im unpassendsten Augenblick. Ja schön, das hätte nichts
mit dem Alter zu tun, meinte der Arzt, aber warum kamen sie dann früher nie?
Das heikelste Thema ist die Sexualität, die so sagt man, ein Teil des Lebens
sein soll. Schon früh wird man regelrecht abgerichtet, dass man sie ja wichtig
nähme, das geht selten vom Elternhaus aus, auch nicht von der Schule, nein es
ist der indirekte Einfluss der Freunde, der Medien, der gesamten Umwelt.
Erfolgreich ist, wer guten Sex hat, und dem es gelingt leicht, erfolgreich und
häufig das andere Geschlecht dazu zu bringen. Nun in der Jugend ist dies ein
sehr anstrengender Wettkampf, ein Großteil der Freizeit wird dafür verwendet,
oft ohne großen Erfolg, und wenn der sich dann doch einmal einstellt, ist er
viel zu schnell vorbei, weil man zu hektisch, zu erwartungsfroh, kurz zu hyper
ist. Erst allmählich lernt man im Leben ihn richtig einzuordnen und in
kontrollierten Bahnen verlaufen zu lassen. Im Alter beginnt jedoch dieses Spiel
der Jugend wieder, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Erwartung liegt nun bei
der oder den Partnerinnen und wieder wird ein Kraftakt daraus ihn zu erfüllen,
Arbeit steht vor Vergnügen. Dass man heute schon recht einfache pharmazeutische
Mittel hat, die Erektion zu erzeugen ist zwar ganz schön, aber die geile
Spontanität der früheren Jahre ist irgendwie dahin. Man schaut lieber den
hübschen Geschöpfen nach, als sie zu erobern.
Das sind nun die physischen
Aspekte des Alterns, wobei man nicht unberührt wegsteckt, dass jedes Jahr der
eine oder andere der gleichen Altersgruppe für immer geht. Dadurch wird mehr
denn je bewusst, dass der Weg nach vorne kürzer ist als der Weg den man bereits
zurückgelegt hat, und damit beginnt der psychische und intellektuelle Teil sich
mit dem Alter auseinanderzusetzen. Ich komme wieder auf die vorher erwähnten
Interviews mit den Personen von über achtzig Jahren zurück. Die Mehrheit hat
bereits mehr oder weniger starke körperlichen Behinderungen und bei einer
beträchtlichen Zahl ist sowohl das Erinnerungsvermögen als auch die
Artikulation schon eingeschränkt. Dies bedeutet, dass ab siebzig aber
spätestens ab achtzig sowohl die
physischen als auch die kognitiven Fähigkeiten immer mehr reduziert werden. Ich
höre zwar nun sofort Widerspruch, und ein jeder hat sofort eine beträchtliche
Zahl von Beispielen an der Hand von Achtzigjährigen die noch Vater wurden, die
noch Marathon laufen, die noch Vorlesungen halten, erfolgreiche und fundierte
Veröffentlichungen schreiben oder noch sonstige großartige Leistungen
vollbringen. Doch all dies hält mich nicht davon ab, dem Alter klar ins Gesicht
zu sehen, es wird kommen und zwar immer schneller als man denkt. Ab siebzig ist
jedes Jahr das man körperlich und geistig erlebt ein Erfolg. Oftmals bemerkt
man es garnicht so direkt, dass man immer weniger langfristige Projekte angeht
oder Entscheidungen trifft, man beschränkt sich auf die Vorschau von zwölf
Monaten, dann gibt man sich wieder neue Ziele. Sie werden keineswegs
anspruchsloser, im Gegenteil, weil man bemerkt und auch weiß, dass die Zeit
läuft, will und kann man nichts mehr aufschieben. Dadurch entsteht gar eine
gewisse Unruhe, man hat noch so viel zu erledigen, will noch eine Menge
abarbeiten und sieht rasch, dass dies in wenigen Jahren nicht mehr möglich sein
wird. Das enttäuscht und frustriert leicht. Dabei schränkt man unweigerlich
seinen alten Lebenstil ein, man schneidet unwichtige Dinge ab, den Stammtisch,
die langen Gespräche und Diskussionen mit Freunden über Gott und die Welt, die
noch nicht gemachten Erlebnisreisen. Ja man wählt gar mit Bedacht die Bücher
aus, die man noch lesen will und die Themen, in die man sich vertiefen und die
man noch erarbeiten will. Es entsteht unweigerlich eine Endzeitstimmung,
keineswegs eine depressive, eher eine unruhige oder hektische, man will nicht
dass es zu spät ist, und vor allem denkt man daran etwas Bleibendes zu
hinterlassen. Nicht etwas Materielles, das kann ja auch vergänglich sein, eher
im intellektuellen Bereich, mit dem sich noch eine zukünftige Generation
beschäftigen könnte. Zugegeben, das ist ein anspruchsvolles Ziel, aber es hilft
die Endzeit attraktiver und hoffnungsvoller zu durchleben.
Auch bei dem Gedanken, dass man
dahinsiechen könnte, rebelliert etwas in einem. Obwohl man es weder aufhalten
noch beeinflussen kann. Ich las kürzlich von der Möglichkeit, dass man bereits
mit einem Vorsprung von zehn oder gar zwanzig Jahren feststellen könnte, ob man
die Gene für eine Demenzentwicklung in sich trägt. Nachdem meine Eltern beide
daran erkrankten, trage ich mich mit den Gedanken diesen Test machen zu lassen.
Ob das gut ist oder nicht, ich bin mir noch nicht sicher. Wenn es kein Mittel
gibt um den Vorgang aufzuhalten, ist es vielleicht besser nicht zu wissen was
kommen wird.
Schon allein diese Gedanken
zeigen, dass man sich unweigerlich mit dem Alter und dem Altern mehr als es
normal ist beschäftigt. Ob man dadurch schneller altert? Ich weiß es nicht, ich
denke nur, dass man es dann bewusster angeht und vielleicht sogar den Teil an
Qualität, den das Alter noch bietet mehr genießt und ausnützt.
17.3.2013