Die Facebook-Demokratie
Demonstrationen und Aufstände sind
Bewegungen des Volkes, die in der Geschichte immer wieder vorkommen. Eine
Gruppe, eine Organisation, ein Staat haben es so an sich, dass sich immer ein
Anführer bildet, oder ernannt wird. So lange er seine Funktion gut erledigt und
die Erwartungen der Gruppe erfüllt, gewinnt er an Ansehen und kann dieses
allmählich in Macht umsetzen. Macht hat aber etwas mit beherrschen und
entscheiden zu tun. Im günstigsten Falle entscheidet der Mächtige zum Wohle
seiner Gruppe, damit es ihr besser geht, damit ihr Leben angenehmer wird, und
damit er in seiner Machtposition bleibt. Häufig, und das ist geradezu
menschlich, benützt der Herrschende diese neugewonnene Machtfülle erst einmal
zu seinem und dem Wohl seiner engsten Gefährten, seien es Minister, Berater,
die Familie oder die Partei. Die Menschheitsgeschichte ist voll von diesen
immer wiederkehrenden Vorgängen. Nach dem Zerfall des römischen Reiches waren
es in Europa die Päpste und Fürsten, oftmals in Personalunion, die eine Region
und ein Volk beherrschten. Zwar kam es immer wieder zu Aufständen, aber diese
waren kaum von Erfolg gekrönt, denn die Machtstruktur war so gestaltet, dass
der Unterbau des Herrschers mit Disziplin und Geld an ihn gebunden war, und
deshalb jede Gegenreaktion sofort niedergeschlagen werden konnte. Deshalb
funktionierte dieses System auch etwa 1700 Jahre. Es war zwar nicht human, aber
erfolgreich. Erst mit dem Sturm auf die Bastille in Paris im Jahr 1789 gelang
es einem ausgebeuteten und revoltierten Volk sich gegen ein degeneriertes
Königshaus durchzusetzen. Doch das Ergebnis war leider nicht das erwünschte,
ein neuer Führer trat hervor und unterjochte und beherrschte nicht nur sein
eigenes Land, sondern nahezu ganz Europa. Aber die Stimme des Volkes verstummte
nicht mehr. Es dauerte weiter nahezu ein Jahrhundert, und viele Menschenopfer,
bis sich allmählich demokratische Strukturen entwickelten. Demokratisch in
diesem Sinne heißt, dass das Volk wie am Anfang wieder bestimmt wer es
vertritt, regiert und wichtige staatliche Entscheidungen fällt. Nicht umsonst
war man sich im frühen Griechenland schon klar, dass Demokratie die höchste
aller Staatsformen sei. Um diese jedoch zu erreichen, benötige man auch ein
mündiges Volk, das entsprechend geschult und gebildet ist, um die Regeln der
Demokratie zu verstehen und zu beherrschen. Darin liegt bis heute in vielen Länder der
Erde das Problem, dass sie zu schnell von einer Abhängigkeit, sei es kolonialer
oder diktatorischer , in die demokratische Unabhängigkeit entlassen wurden,
ohne die neuen Regeln zu verstehen und zu beherrschen. Dadurch kam und kommt es
immer wieder zu Rückfällen.
Eine ganz andere Entwicklung stellt man aber bereits seit dem 20.
Jahrhundert in vielen Demokratien fest, das elitäre Verhalten der
Politikerklasse. Einmal gewählt geben sie sich Pfründe und Vorteile, die dem
gemeinen Bürger nicht zustehen. In seinem Verhalten benimmt sie sich wie
frühere Hofvasallen, die am Versorgungsapparat des Fürsten hingen. Nur alle
paar Jahre steigen sie hinab zum gemeinen Volk, um ihm Sand, mittels
Versprechungen, in die Augen zu streuen, damit sie wieder vier oder mehr Jahre
im Dunstkreis des „ Olymps“ ihrer Eitelkeit frönen können. Dieses
pseudodemokratische Verhalten, das wir gerade heute in vielen westlichen
Ländern feststellen, führt jedoch zu einer Staatsverdrossenheit, die im
günstigsten Falle dazu führt, dass sich eine große Zahl der Bürger für das
politische Leben gar nicht mehr interessiert, sich von Wahlen fernhält und
seinen eigenen Interessen lebt, solange die Wirtschaft und Struktur eines
Landes dem Einzelnen ein sorgenfreies
Leben gewährt. Es bedarf dann aber nur eines kleinen Anlasses um diese Friedfertigkeit
und politische Abstinenz zu zerstören, und in eine breite Demonstration oder
gar einen Aufstand zu verwandeln. Genau
diese Situation erleben wir dieser Tage zunächst in Istanbul in der Türkei, und nun in Brasilien. Im ersten Falle
war es die Selbstherrlichkeit des Staates und der Stadtverwaltung, eine der
wenigen Grünflächen in der Millionenstadt in ein Shopping Center verwandeln zu
wollen. Den Bewohnern der Stadt, hat dies gereicht, sie gingen auf die Straße,
demonstrierten für das was ihnen wichtig war, und wurden dann brutal von der
staatlichen Ordnungsmacht bekämpft. Diese Demonstration griff aber auf andere
Städte des Landes über, und plötzlich sah sich der politische Führer, der
Ministerpräsident in der Defensive. Er reagierte wir Herrscher eben reagieren,
mit Ausdrücken wie: „ Terroristen, Banditen, Revolutionären“. Dabei waren es
Bürger die ihn einmal gewählt hatten. Sie akzeptierten nur keine einsamen
Entscheidungen zu ihrem Nachteil. Das muss eine Demokratie ertragen. In der
Türkei herrscht derzeit eine Situation, i n der der Staat seine militärische
Gewalt aufbietet und zu keinem Dialog bereit ist. In der Stille wird weiter
demonstriert.
Eine ähnliche Situation löste vor einer Woche in São Paulo die erste
Straßendemonstration aus. Der Fahrpreis wurde für öffentliche Verkehrsmittel
von drei Real auf 3,20 erhöht. Eigentlich kein Grund zu Beschwerde, wenn man
die Erhöhung mit der Inflation vergleicht, doch gerade dieser scheinbar
berechtige Zuschlag, war die Zündschnur um eine mit dem Staat unzufriedene
Bürgergruppe in Bewegung zu setzen. Nun
entwickelte sich etwas, was in dieser raschen Form heute durch das Internet
möglich ist, in den sozialen Netzen Facebook und Twitter multiplizieren sich
die Aufrufe zu Demonstrationen, gerade unter der jungen Generation, die einen
Teil ihres Lebens ohnehin nur im Netz verbringt. Es ist nicht festzustellen,
wer den ersten Aufruf ins Netz gestellt hat, aber seitdem erlebt die
Netzgemeinde einen Informationsaustausch mit Aufrufen, Kommentaren, Absprachen,
die mühelos zu jeder beliebigen Zeit an jedem Ort Tausende und Abertausende auf
die Straße bringen. Der Multiplikationsfaktor ist enorm und verbreitet sich mit
Lichtgeschwindigkeit. Das Ergebnis ist, dass derzeit in hunderten
brasilianischer Städte demonstriert wird, und dies nicht nur gegen eine
Fahrpreiserhöhung, sondern gegen alles, was in diesem Land schlecht
funktioniert, das ist nicht eben wenig. Es sind keineswegs die Favela-Bewohner
oder die Unterprivilegierten, die der Staatsmacht zeigen, dass sie unzufrieden
sind, es sind die Bürgersöhne und Töchter, die genug zu essen haben, die an
öffentlichen und privaten Universitäten studieren, oder gar ordentlich bezahlte
Jobs haben, aber sie alle haben genug von Korruption und Vetternwirtschaft der
Politiker, ihrer Selbstherrlichkeit, schlechter staatlicher
Gesundheitsversorgung und mieser öffentlicher Schulen. Sie zeigen ihr
Unverständnis gegen Milliardenausgaben für die Fußballweltmeisterschaft und
Einsparungen bei der täglichen Versorgung.
Dies hat die Politiker jeder Couleur kalt erwischt, in São Paulo sieht man
den frischgebackenen PT-Bürgermeister Schulter an Schulter mit dem
PSDB-Gouverneur seine zwanzig Centavos-Erhöhung solange zu verteidigen, bis er
nicht mehr kann und sie wieder zurücknimmt. Kein Politiker schlägt derzeit aus
den Demonstrationen Kapital, wenn Parteianhänger mit Fahnen auftauchen, werden
sie ausgeschlossen und die Banner zerrissen. Die Demonstrierenden sind keine
Parteianhänger, es sind junge Bürger, die ihr Recht wollen. Das sich dazwischen
Randalierer und Gewalttäter einmischen ist nicht gewollt, aber die staatliche
Ordnungskraft ist so verunsichert, dass sie nicht einmal mehr gegen diese
einschreiten. Die Demokratie ist heute
in den Händen der jungen Brasilianer, die genug von den Machenschaften der
Machtgeneration haben und für eine gerechtere Zukunft kämpfen, ihr
Versammlungsfeld ist Facebook und
Twitter, dort holen sie ihre Information, berichten über ihr Denken und die
Ergebnisse und stimulieren sich gegenseitig. Dem hat die Machtbasis Brasilia
derzeit nichts entgegenzusetzen, sie ist ratlos.
Es kann gut sein, dass sich die Bewegungen wieder verlaufen werden, so wie
„occupy Wallstreet“, aber was bleiben sollte, ist die Erkenntnis, dass sich
Denken, Handeln und Kommunikation der Politikerschicht ändern muss. Die jungen
Generation will nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden, und nicht nur
Entscheidungen empfangen, sie will mitdiskutieren und mitbestimmen, nicht als
Partei und nicht als einzelne Anführer, sondern als Generation des Internet,
das keine Hierarchie mehr kennt. Das müssen nun die Politiker erst einmal lernen.
Eek 21.6.2013
Nenhum comentário:
Postar um comentário